Entfernungen von Sternen
Physik-News vom 19.11.2020
1838 gewann Friedrich Wilhelm Bessel das Wettrennen um die Messung der ersten Entfernung zu einem anderen Stern mit Hilfe der trigonometrischen Parallaxe - und legte damit die erste Entfernungsskala des Universums fest. Nun haben Physiker, die sich mit Parallaxenmessungen bei Radiowellenlängen beschäftigen, Bessels Originalveröffentlichungen über "seinen" Stern 61 Cygni wieder aufgegriffen. Obwohl sie im Allgemeinen die Ergebnisse reproduzieren konnten, die Bessel und zwei anderen Astronomen des 19. Jahrhunderts erzielt hatten, fanden sie heraus, warum einige dieser frühen Ergebnisse statistisch gesehen nicht mit modernen Messungen übereinstimmen.
Bestimmungen der Entfernung zu astronomischen Objekten sind von grundlegender Bedeutung für die gesamte Astronomie und für die Einordnung unseres Platzes im Universum. Die alten Griechen stellten die unbeweglichen "Fixsterne" in weit größere Ferne als die Himmels-kugeln, auf denen die Planeten ihrer Bewegungen vollzogen. Die Frage "Wie viel weiter?" entzog sich jedoch noch Jahrhunderte lang einer Antwort, nachdem Astronomen begonnen hatten, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Die Dinge spitzten sich Ende der 1830er Jahre zu, als sich drei Astronomen unabhängig voneinander auf jeweils einen Stern konzentrierten und dazu viele Nächte an ihrem Teleskop verbrachten, oft unter schwierigen Bedingungen. Es war Friedrich Wilhelm Bessel, der 1838 das Rennen gewann, indem er verkündete, dass die Entfernung zum Doppelsternsystem 61 Cygni im Sternbild Schwan 10,4 Lichtjahre beträgt. Dies bewies, dass Sterne nicht nur geringfügig weiter von uns entfernt sind als die Planeten im Sonnensystem, sondern mehr als eine Million Mal weiter. Das war ein wahrhaft transformatives Ergebnis, das den Maßstab des Universums, wie es im 19. Jahrhundert bekannt war, völlig veränderte.
Publikation:
Mark J. Reid, Karl M. Menten
The First Stellar Parallaxes Revisited
Astronomische Nachrichten, 02 November 2020
Bessels Messung basierte auf der Methode der trigonometrischen Parallaxe. Dies ist im We-sentlichen eine Triangulation, wie sie von Vermessungsingenieuren zur Bestimmung von Ent-fernungen im Land verwendet wird. Astronomen messen die scheinbare Position eines "nahen" Sterns gegenüber viel weiter entfernten Sternen über ein ganzes Jahr hinweg, wobei sie ihre Messungen an verschiedenen Punkten der Erdumlaufbahn um die Sonne durchführen.
Bessel musste seine akribischen Messungen über fast 100 Nächte an seinem Teleskop durch-führen. Heutzutage sind Astronomen sehr viel "effizienter". Die Gaia-Weltraummission misst genaue Entfernungen für Hunderte von Millionen von Sternen, mit großen Auswirkungen für die gesamte Astronomie. Wegen des interstellaren Staubes in den Spiralarmen unserer Milch-straße hat Gaia jedoch Schwierigkeiten, Sterne innerhalb der galaktischen Ebene beobachten, die weiter von der Sonne entfernt sind als etwa 10.000 Lichtjahre - das sind nur 20% der Größe der Milchstraße von mehr als 50.000 Lichtjahren. Daher wird selbst ein so fundamenta-les und umfangreiches Projekt wie Gaia nicht den grundlegenden Grundriss unserer Galaxie liefern können, von dem viele Aspekte noch lebhaft diskutiert werden. Es ist sogar noch un-gewiss, wie viele Spiralarme es in unserer Milchstraße gibt.
Um die Struktur und Größe der Milchstraße besser zu verstehen, initiierten Mark Reid vom Center for Astrophysics | Harvard-Smithsonian und Karl Menten vom Max-Planck-Institut für Radioastronomie (MPIfR) ein Projekt zur Bestimmung der Entfernungen zu Radioquellen, die in den Spiralarme der Milchstraße sitzen. Das dafür bestgeeignete Teleskop ist das Very Long Baseline Array, ein Netzwerk von 10 Radioteleskopen, das sich von Hawaii im äußersten Westen bis zu den Virgin Islands im Osten der USA erstreckt. Durch die Kombination der Signale aller 10 Teleskope, die Tausende von Kilometern voneinander entfernt sind, erhält man Bilder, die zeigen, was man sehen könnte, wenn unsere Augen für Radiowellen empfind-lich wären und einen Abstand von fast der Größe der Erde voneinander hätten.
Dieses Projekt wird von einem internationalen Team durchgeführt, wobei Wissenschaftler des MPIfR wesentliche Beiträge leisten – MPIfR-Direktor Karl Menten pflegt seit mehr als 30 Jahren eine fruchtbare Zusammenarbeit mit Mark Reid. Als zu Beginn des Projekts ein ein-gängiges Akronym diskutiert wurde, wählten sie den Namen „Bar and Spiral Structure Le-gacy Survey“, kurz BeSSeL. Natürlich hatten sie dabei den großen Astronomen und Mathe-matiker Friedrich Wilhelm Bessel, den Pionier der Messung von Sternparallaxen, im Sinn.
Wie in jeder experimentellen oder beobachtenden Wissenschaft erlangen Messungen nur dann Bedeutung, wenn ihre Unsicherheiten zuverlässig bestimmt werden können. Dies ist auch das alltägliche Brot der Radio-Astrometrie und wird von den Astronomen des BeSSeL-Projekts besonders beachtet. Zu Bessels Zeiten hatten die Astronomen gelernt, auf Messfehler zu ach-ten und sie bei der Ableitung von Ergebnissen aus ihren Daten zu berücksichtigen. Dazu ge-hörten oft mühsame Berechnungen, die ausschließlich mit Bleistift und Papier durchgeführt wurden.
Natürlich war ein Wissenschaftler von Bessels Kaliber sehr wohl bemüht, alle Prob-leme zu analysieren, die seine Beobachtungen möglicherweise beeinflussen könnten. So er-kannte er, dass Temperaturschwankungen in seinem Teleskop die empfindlichen Messungen in kritischer Weise beeinflussen könnten. Bessel hatte in seiner Sternwarte in Königsberg in Preußen (dem heutigen russischen Kaliningrad) ein hervorragendes Instrument, das von dem genialen Instrumentenbauer Joseph Fraunhofer stammte und das letzte war, das dieser gebaut hatte. Die Temperaturschwankungen hatten einen großen Einfluss auf die für eine Paralla-xenmessung erforderlichen Beobachtungen. Sie müssen über ein ganzes Jahr verteilt sein, wo-bei einige im heißen Sommer, andere in kalten Winternächten gemacht werden.
Mark Reid hatte damit begonnen, sich mit Bessels Originalarbeiten über 61 Cygni zu befassen. Er bemerkte einige kleine Ungereimtheiten in den Messungen. Um diese zu verstehen, began-nen er und Karl Menten, sich tiefer in die Originalliteratur einzugraben. Bessels Veröffentli-chungen erschienen im Original in Deutsch, in Astronomische Nachrichten, obwohl einige in Auszügen, ins Englische übersetzt, auch in den Monthly Notices of the Royal Astronomical Society herauskamen. Daher mussten die deutschen Originalfassungen analysiert werden, wo-bei sich die Tatsache als nützlich erwies, dass Mentens Muttersprache Deutsch ist.
Reid und Menten nahmen auch die Ergebnisse von Bessels Konkurrenten bei der Ermittlung von Sternparallaxen unter die Lupe. Thomas Henderson, der in Kapstadt, Südafrika, arbeitete, hatte α Centauri ins Visier genommen, die Hauptkomponente des, wie wir heute wissen, unse-rer Sonne nächstgelegenen Sternsystems. Kurz nachdem Bessel sein Ergebnis bekannt gege-ben hatte, veröffentlichte Henderson eine Entfernung zu diesem Stern.
Der bedeutende Astronom Friedrich Georg Wilhelm von Struve vermaß α Lyrae (Wega). Die Literatursuche nach von Struves Daten erforderte einiges an Detektivarbeit. Ein detaillierter Bericht über seine Messungen wurde nur in lateinischer Sprache als Kapitel einer umfangrei-chen Monographie veröffentlicht. Der Bibliothekar des MPIfR verfolgte ein Exemplar bis zur Bayerischen Staatsbibliothek, die es in elektronischer Form zur Verfügung stellte. Es ist lange Zeit ein Rätsel gewesen, warum von Struve ein Jahr bevor Bessel sein Ergebnis für 61 Cygni mitteilte, eine vorläufige Entfernung zur Wega ankündigte, um sie später auf Grund weiterer Messungen auf den doppelten Wert zu revidieren. Es scheint, dass von Struve zunächst alle seine Messungen verwendet hat, aber am Ende das Vertrauen in einige davon verloren und diese verworfen hat. Hätte er dies nicht getan, hätte er wahrscheinlich mehr Anerkennung für sein Resultat erhalten.
Reid und Menten können im Allgemeinen die von allen drei Astronomen erzielten Ergebnisse reproduzieren, stellten jedoch fest, dass von Struve und Henderson einige ihrer Messunsicher-heiten zu klein ansetzten, was ihre Parallaxen etwas aussagekräftiger erscheinen ließ, als sie es tatsächlich waren. "Bessel über die Schulter zu schauen, war eine bemerkenswerte Erfahrung und hat Spaß gemacht", sagt Mark Reid. "Die Arbeit von Bessel und seiner Kollegen sowohl in einem astronomischen als auch in einem historischen Kontext betrachten zu können, war wirklich faszinierend“, schließt Karl Menten.
Diese Newsmeldung wurde mit Material des Max-Planck-Instituts für Radioastronomie via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.